Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 23. April 2024 zur Auslegung des § 1 Absatz 1 Satz 2 SVEV
In § 1 Absatz 1 Satz 1 der Sozialversicherungsentgeltordnung (SVEV) ist geregelt, welche Bestandteile des Arbeitsentgelts sozialversicherungsfrei sind. Es besteht die Vorgabe gemäß § 17 Absatz 1 Satz 2 SGB IV, die lohnsteuerliche und die sozialversicherungsrechtliche Behandlung von Arbeitsentgelt möglichst gleichmäßig zu regeln. Dementsprechend sind grundsätzlich solche Arbeitsentgelte, die von der Lohnsteuer befreit sind oder die der pauschalen Lohnsteuer unterworfen werden dürfen, gemäß § 1 Absatz 1 SVEV weitgehend auch von Sozialversicherungsbeiträgen befreit.
Im Jahr 2015 wurde Satz 2 des § 1 Absatz 1 SVEV wie folgt geändert:
„Dem Arbeitsentgelt sind die in Satz 1 Nummer 1 bis 4a, 9 bis 11, 13, 15 und 16 genannten Einnahmen, Zuwendungen und Leistungen nur dann nicht zuzurechnen, soweit diese vom Arbeitgeber oder von einem Dritten mit der Entgeltabrechnung für den jeweiligen Abrechnungszeitraum lohnsteuerfrei belassen oder pauschal besteuert werden“.
Gemäß der Motivation des Gesetzgebers wurde diese Regelung getroffen, damit eine erst im Nachhinein geltend gemachte Steuerfreiheit beziehungsweise Pauschalbesteuerung nicht dazu führt, dass für steuer- und beitragspflichtig abgerechnete Arbeitsentgeltbestandteile Sozialversicherungsbeiträge zu erstatten sind, „wenn der Arbeitgeber die vorgenommene steuerpflichtige Erhebung nicht mehr ändern kann“ (BT-Drucksache 18/3699 vom 7. Januar 2015).
Die Spitzenorganisation der Sozialversicherungsträger hat die Auslegung des § 1 Absatz 1 Satz 2 SVEV in dem Besprechungsergebnis (BE) vom 20. April 2016 deutlich erweitert. Auf Seite 8 des BE vom 20. April 2016 wird der Standpunkt vertreten, dass § 1 Absatz 1 Satz 2 SVEV auch in den Fällen analoge Anwendung findet, in denen der Arbeitgeber eine unzutreffende steuer- und beitragsfreie Behandlung von Arbeitsentgeltbestandteilen durch eine nachträgliche Pauschalbesteuerung korrigiert.
Das Landessozialgericht Niedersachsen hat in seiner Entscheidung vom 24. März 2022 gegen den Rechtstandpunkt der Sozialversicherungsträger entschieden, jedoch wurde in der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 23. April 2024 die Entscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen aufgehoben und dem Standpunkt der Sozialversicherungsträger in vollem Umfang entsprochen.
Aus dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung ergibt sich die folgende Anforderung an die betriebliche Praxis:
Spätestens bis zur Erstellung des Jahreslohnsteuerbescheinigung des Vorjahres zum 28. Februar des Folgejahres müssen alle steuerfreien Bestandteile des Arbeitsentgelts steuerfrei behandelt sein. Ebenso muss für alle Bestandteile des Arbeitsentgelts, bei denen das Recht auf pauschale Besteuerung besteht, die pauschale Lohnsteuer angemeldet sein. Nur in diesem Fall ist die Voraussetzung für die Sozialversicherungsfreiheit dieser Arbeitsentgeltbestandteile gesichert.
Unterbleibt die Pauschalierung der Lohnsteuer und wird diese später nachgeholt oder wird ein Entgeltbestandteil zunächst versehentlich als steuerpflichtig behandelt und erfolgt die Korrektur erst nach dem 28. Februar des Folgejahres, dann folgt daraus das Recht der Sozialversicherungsträger, auf diese Entgeltbestandteile Sozialversicherungsbeiträge zu erheben.